Ein Roland-Unikat
Ein Roland-Unikat
Es ist Freitagabend, zehn Minuten vor 18.00 Uhr. Draußen regnet es in Strömen. Viele Autos befahren die Bahnhofstraße in Castrop-Rauxel. Radfahrer und Fußgänger trauen sich bei diesem Wetter kaum aus dem Haus. Nur einer ist unterwegs, ein älterer Herr, klein und dürr, fast unscheinbar und dennoch fällt er auf. Er joggt die Bahnhofstraße lang, rechts neben ihm sein Fahrrad.
Der ältere Herr hat ein Ziel, er ist auf dem Weg in die Turnhalle der Martin-Luther-King-Schule. Jeden Dienstag und Freitag kommt er, er fährt zum Tischtennis-Training, zu seinem Verein, zur DJK Roland Rauxel. 78 Jahre ist er mittlerweile, seit fast 30 Jahren freut er sich am Spiel mit der Zelluloidkugel. Angefangen hat es für ihn auf den Steinplatten im Gysenbergpark in Herne.
Der ältere Herr ist Heinz Setzer, manche sagen: „Er ist der fitteste Rentner in Castrop-Rauxel“. Die zwei Kilometer zum Training, meist bergab, kommt er nicht mit dem Fahrrad, nein, er joggt neben dem Fahrrad her, um sich fit zu halten.
18.00 Uhr, eine kleine Gruppe von Roländern betritt die Halle. Heinz trägt sein Fahrrad die wenigen Stufen zur Halle hoch, meist hält jemand die Tür für ihn auf und dann schiebt er sein einziges Fortbewegungsmittel, ein Auto besitzt er nicht, in den gläsernen Gang, der zu den Kabinen führt, lehnt es an den vorletzten Pfeiler im Gang und schließt es ab. Als die Stadt Castrop-Rauxel vor einigen Jahren die Unterbringung der Fahrräder in dem Gang verboten hat, macht er sich auf den Weg zum Rathaus und spricht eigenständig vor, beim Ordnungsamt, beim Sport- und Bäderamt. Fast niemand bekommt etwas von seinem Engagement mit. Er prahlt auch nicht damit. Er will nicht auffallen.
Nach dem Umziehen in der Kabine, Heinz Setzer ist immer einer der schnellsten, geht es in die Turnhalle gemeinsam mit einigen Jugendlichen und einigen Spielern der Herrenmannschaften. Er selbst spielt in keiner der Roland-Teams. Es ist ihm „zu aufregend“. Einen Versuch selbst am Meisterschaftsbetrieb teilzunehmen, hat er abgebrochen. Lieber kommt er zweimal in der Woche zum Training und spielt zwei Stunden, völlig egal mit wem, völlig egal, wie gut der Gegner ist. Von der 1. Herrenmannschaft bis zum Schüler, der erstmals einen Schläger in der Hand hat. Das führt dazu, dass alle sagen, das ist „Heinz Setzer“. Er hat am Spiel Freude, ganz egal, wer mit ihm spielt. Nur eins, das mag er gar nicht, das Doppel. Damit kommt er nicht klar. Er sagt dann immer – sich selbst auf den Arm nehmend: „Das versteh ich nicht. Das geht mir zu schnell. Ich bin doch verrückt im Kopf. Da komm ich nicht hinterher.“
Am liebsten jedoch spielt er mit den Jugendlichen, versucht ihnen etwas beizubringen, trainiert mit ihnen Grundschläge und Schmetterbälle. In der Regel steht er ein bis zwei Meter hinter dem Tisch und spielt alle Schmetterbälle der Jugendlichen zurück. „Er ist wie eine Wand“. Dieses Lob ist häufig zu hören. Selbst aktiv und offensiv zu trainieren, ist nicht seine Sache. „Das dauert jetzt eine halbe Stunde bis der Erste kommt“, sagt er dann gerne. Lieber bleibt er passiv und lässt die Jugendlichen trainieren. Die Förderung der Jugend ist ihm wichtiger als sein eigener Fortschritt. Er will nicht auffallen.
Zwischendurch gibt er die gesammelten Zeitungsausschnitte aus den Castroper Zeitungen an die Nicht-Castroper im Verein weiter. Er verfolgt aufmerksam die Spiele aller Roländer Mannschaften. Bei allen Heimspielen kommt er vorbei, am liebsten bei der 1. Mannschaft, er fehlt aber auch nicht bei den Kreisklassenspielen. Er steht dann genau in der Mitte der Halle, an die Wand gelehnt. Sitzen will er nicht, denn er hat ja nicht reserviert und er kann sich nur einen Stehplatz leisten. Das ist sein Platz mitten im Geschehen, aber zurückhaltend und bescheiden. Er will nicht auffallen.
Meist zieht er sich für das Training an den letzten Tisch in der Halle zurück. Er will niemanden stören. „Der Heinz“ will niemanden unterbrechen. Fliegt sein Ball einmal durch die Halle, dann ruft er nicht „Stop“ und lässt sich den Ball zurückwerfen. Heinz rennt selbst hinterher. Er will nicht auffallen.
Heinz Setzer hat keine große Tasche bei sich, wie viele seiner Trainingspartner. Er kommt immer mit seiner kleinen schwarzen Gepäckträger-Tasche die genau unter die Bänke in der Turnhalle passt. Darin befindet sich immer sein Fahrrad-Computer, der während des Trainings als Uhr dient, und eine gelbe Flasche gefüllt mit seinem berühmten Knoblauchsaft. Diese Geschichte erzählt er zumindest gern, vor allem den Kindern. Dass sich dahinter Fencheltee mit Honig verbirgt, gibt er selten Preis.
Nach dem Training der Grundschläge beginnen die Spiele und die verlaufen alle nach strengem Ritual, ganz so, wie er es mit seinem vor wenigen Monaten verstorbenen Sport- und Spielkameraden Alfons Musial immer praktiziert hat. „Alfons fängt an“ ist vor jedem Spiel zu hören. Die Kinder schlüpfen kurz in Alfons’ Rolle und beginnen das Spiel, immer von der Seite des Geräteraumes aus. Im Laufe des Spiels versucht er immer wieder mit kurzen Sprüchen aufzulockern. Gerne lobt er vor einem fünften Satz den „Knoblauchpokal“ oder die „Knoblauchwurst“ aus, um die es dann geht. Macht er den ersten Punkt im Satz, ruft er mit einem Augenzwinkern: “1:0 für das Altersheim!”. Bei einem knappen Spielstand bemüht er gerne seinen Regenschirm. „Kennst Du meinen Regenschirm? So spannend wie der wird es jetzt“, sagt er gern seinem Mitspieler. Netzbälle kommentiert er mit einem schelmischen: “Mein Herz blutet, aber die Galle freut sich.” Liegt er mal zurück, ruft er seinem Gegner zu: “Du kannst noch aufgeben…” Sehr beliebt bei Bällen, die knapp über den Tisch fliegen: „Das war aber knapp. Da passte nur ein Frauenhaar dazwischen. [kurze Pause]. Aber in der Länge“. Heinz Setzer grinst.
Es ist 19.30 Uhr. Die ersten Spieler verlassen die Halle und begeben sich in Richtung Kabine und Duschen. Heinz ist immer noch am Tisch. Er ruft durch die ganze Halle: „Wir wollen uns doch erst mal warmspielen.“ Dann wendet er sich wieder dem Spiel zu. Sein Ziel beim Sport formuliert er – wieder sich selbst auf den Arm nehmend: „Ich will polnischer Westfalenmeister werden. [kurze Pause] Bei den 100-Jährigen.“ Gewinnt Heinz einen Satz gegen einen höherklassig aufschlagenden Spieler, ruft er gerne voller Freude, aber doch immer mit Augenzwinkern: „Das war der Höhepunkt meiner Karriere.“ oder „Die tollen Ballwechsel schau ich mir später in der Sportschau an.“
Nach dem Sport in der Kabine erzählt Heinz wenig. Er will nicht auffallen. Manchmal, nur manchmal lässt er einen Einblick in sein Privatleben zu, wenn er erzählt, dass er bald wieder nach Sylt fährt. Jedes Jahr gönnt er sich drei Wochen Urlaub auf der Nordseeinsel. Und das ist kein Protz oder herausgeworfenes Geld. Nein, das ist sein Urlaub und war viele Jahre, in denen er allein zu Hause seine schwer kranke Mutter pflegte, seine einzige Rückzugsmöglichkeit. Als vor einigen Jahren sein Wellensittich starb, umso mehr. Heinz radelt dann 3 Wochen über die Insel und geht in die Sauna. Das ist seine Erholung. Doch er redet ungern darüber. Es ist ihm unangenehm. Viel lieber redet er über sein großes Hobby, die Orgel. Zu Hause steht eine große und moderne Heimorgel, bei der häufiger „Software“-Aktualisierungen anstehen, von denen er immer ganz aufgeregt erzählt. Mit seinen Musikfreunden besucht er häufig Konzerte und Seminare, manchmal auch allein. Dann fährt er mit dem Rad bis nach Bochum. Bei Wind und Wetter.
Schnell hat sich Heinz Setzer nachdem Tischtennisspielen umgezogen und ist schon auf dem Weg nach Hause, jetzt aber bergauf bis zum Schophof.
Neben seinen Roländern hegt Heinz Setzer eine Leidenschaft für die Bundesliga-TT-Künstler von Ruhrstadt Herne (Germania Holthausen). Zu jedem Heimspiel fährt er mit seinem Fahrrad die knapp 10 Kilometer nach Herne. In diesem Sommer steigen die Herner in die Deutsche Tischtennis-Liga auf. Am 26. September 2010 findet das erste Heimspiel gegen Ochsenhausen statt. Ein Pflichttermin für Heinz Setzer.
Am 14. Oktober 2010 spielt die 7. Herrenmannschaft ihr Heimspiel gegen Brünninghausen – vorgezogen auf einen Donnerstag. Einigen fällt es sofort auf, „der Heinz“ ist nicht da. Niemand weiß, dass er zu diesem Zeitpunkt bereits im Krankenhaus liegt. Drei Tage vor seinem Tod…
Am 17.Oktober erliegt Heinz Setzer in einem Herner Krankenhaus seinem Krebsleiden. Niemand wusste von seiner Krankheit, niemand wusste von seinem Tod. Seine letzte Ruhe hat er auf dem Südfriedhof in Herne gefunden in einem anonymen Reihengrab, ohne Stein und ohne Kreuz, nur Wiese… Heinz Setzer wollte nie auffallen. Nun fällt nicht mal sein Grab auf. Er wurde beigesetzt ohne Trauerfeier, anonym durch das Ordnungsamt, dass nicht in der Lage war, Angehörige oder Freunde zu finden. Jemand stirbt und niemand weiß es. Das gibt es auch 2010.
Roland Rauxel trauert um sein langjähriges Mitglied Heinz Setzer, um das „Roland-Unikat“. Sein „Stehplatz“ bei Heimspielen bleibt leer, ein Stück Roland-Geschichte ist von uns geradelt. OHNE AUFZUFALLEN